Rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Demenz, bei zwei Drittel davon lautet die Diagnose: Alzheimer. Bis 2050 soll die Zahl auf drei Millionen Demenzpatienten ansteigen. Die Krankheit gilt bislang als unheilbar. Durch die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten ändern sich bei Betroffenen die Bedürfnisse. Die Ansprüche an die Wohnform und das Wohnumfeld ändern sich (mitunter drastisch). Deshalb kann die richtige Verwendung von Licht, Farben, Gerüchen, Akustik und Bildzeichen – kurz: eine demenzsensible Architektur – dabei helfen, weiterhin ein (maximal) selbstbestimmtes Leben zu führen.
„Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns.” Schon Großbritanniens früherer Premierminister Winston Churchill war mit der gesellschaftlichen Wirkung und dem Potenzial der Architektur wohl vertraut. Er wusste, dass Gebäude eine wichtige Rolle bei der Stiftung von Identität und der Vermittlung von Halt und Stabilität spielen. Sie sind ein Ort der Orientierung und Sicherheit, ein Ort des Wohlfühlens und der Nachhaltigkeit.
Gerade im Alter sehnen wir uns nach genau diesen Dingen – erst recht wenn unsere kognitiven und motorischen Fähigkeiten nachlassen, beispielsweise durch eine Demenzerkrankung. Hierbei fällt es Betroffenen zunehmend schwerer, ehemals bekannte und klar ersichtliche Strukturen, Formen oder Gegenstände zu erkennen und zu differenzieren. Darunter fällt z.B. die Unterscheidung von Herren- und Damen-WC, das Erkennen von Farben durch das veränderte Farbsehen mit zunehmenden Alter oder die erhöhte Störanfälligkeit für Hintergrundgeräusche. Die Folge: Daraus resultierende Orientierungslosigkeit und Unsicherheit kann zu Exklusion, Isolation und Depressionen führen.
Ziele von demenzsensibler Architektur
Prävention bzw. Abhilfe schafft eine demenzsensible Architektur. Ihr Ziel ist es, sämtliche Räumlichkeiten so zu gestalten, dass die Selbstständigkeit gefördert und die Mobilität angeregt wird. So sollen die kognitiven Fähigkeiten sowie die physischen Funktionalität so lange wie möglich erhalten werden. „Wenn der Mensch sich nicht mehr an die Umwelt anpassen kann, dann muss sich eben die Umwelt an den Menschen anpassen”, sagt die Leiterin des Bayerischen Instituts für Alters- und Demenzsensible Architektur, Birgit Dietz. Eine gelungene demenzsensible Architektur gewährleistet emotionale sowie physische Sicherheit, Halt und Orientierung, verbindet Funktionalität, Hygiene und Ästhetik und vermittelt ein Gefühl des Willkommenseins – für Betroffene und Angehörige.
So entsteht ein wertschätzendes Umfeld. Zudem unterstützt eine demenzsensible Architektur Pflegekräfte bei der Ausübung ihrer Arbeitsprozesse. Das oberste Kredo der demenzsensiblen Architektur lautet: die Wahrnehmung muss immer unmissverständlich sein.
Diese Gestaltungsziele sind idealerweise eingebettet in ein Gesamtkonzept des Umgangs mit Menschen mit Demenz, das nicht nur bauliche, sondern auch organisatorische und personelle Ansätze mit einbezieht. In diesem Beitrag wollen wir uns hauptsächlich auf die baulichen und raumgestalterischen Unterstützungsmöglichkeiten fokussieren.
Wie also sieht eine demenzorientierte Raumgestaltung aus?
Inhaltlich adressiert ein Gestaltungskonzept der demenzsensible Architektur grundsätzlich die Unterstützung der visuellen, auditiven und sinnlichen Wahrnehmung. Hierbei liegt der Fokus vor allem auf der Verwendung von ausreichenden Lichtquellen, Farbkontrasten sowie sinnvollen Orientierungshilfen.
Farbe
Intensive, gesättigte Farben und Farbkontraste können zum Ausgleich visueller Einbußen eingesetzt werden, indem die Wahrnehmung räumlicher Elemente (z.B. bestimmter Türen oder Wandabschnitte) gestärkt wird. Das Erkennen von Räumen kann unterstützt werden, indem durch eine intensive Farbgebung ein unverkennbarer Ort entsteht, der sich klar von seiner Umgebung abgrenzt. Auch die richtige Wahrnehmung räumlicher Situationen kann so gefördert werden, indem beispielsweise die Wände und Fußböden in Fluren deutlich voneinander unterschieden werden. Dunkle Flächen auf hellem Boden können als tieferliegend empfunden werden – das Sturzrisiko steigt. Auch gefährlich: Schwarze Sauberlaufmatte werden häufig als Loch gesehen.
Klare Hell-Dunkel-Kontraste können im Alter deutlich besser erkannt werden. Ein Beispiel: Wenn die Sitzfläche eines Stuhls sich nicht deutlich von der Bodenfarbe unterscheidet, ist die Gefahr, sich neben den Stuhl zu setzen, erhöht. Oder das Beispiel Lichtschalter: Bleibt der Rahmen weiß, wird bei einer schwarzen Einfärbung des innenliegenden Schalter die Auffindbarkeit erhöht. Auch in den Bädern spielen Kontraste eine elementare Rolle. Weiße Sanitärgegenstände vor weißen Boden- bzw. Wandfliesen werden oftmals nicht wahrgenommen und können demzufolge nicht benutzt werden. Ein weißes WC mit weißer WC-Brille kann ein gänzlich unbekanntes Element darstellen.
Aber Achtung: Farbkonzepte, die zur Differenzierung von Wohnbereichen derselben räumlichen Struktur eingesetzt werden, reichen nicht aus, um diese zu unterscheiden. Auch Farbcodierungen von Etagen sind für Demenzerkrankte keine wirksame Orientierungshilfe.
Licht
Eine hohe Grundausleuchtung der Räumlichkeiten sowie schattenarmes Licht sind elementar wichtig für eine gute Orientierung. Räumliche Situationen, aber auch Orientierungshilfen wie z.B. Merkzeichen müssen durch ausreichende Beleuchtung gut erkennbar sein. Aber: Eine zu hohe Beleuchtungsstärke kann als negativ – sprich „blendend” – wahrgenommen werden.
Sehr dunkle Böden wirken beispielsweise wie eine Barriere. Sehr helle Böden wirken dagegen „wolkig” und „bodenlos”. Auch gilt es darauf zu achten, keine Muster im Boden zu haben und für eine sowohl ausreichend helle, als auch schattenarme Beleuchtung zu sorgen. Der Boden sollte dabei aber stets die dunkelste Fläche darstellen, die Decke die hellste.
Differenzierte Lichtquellen und Lichtinseln schaffen einprägsame Orte. Pendelleuchten z.B. erzeugen über Esstischen einen wohnlichen Charakter und unterstützen das Erkennen der Wohnküche. Weniger belichtete Bereiche hingegen werden tendenziell eher nicht aufgesucht, wenn es hellere Orte in unmittelbarer Nähe gibt. Mit diesem Wissen lassen sich durch Zonen unterschiedlicher Beleuchtungsintensität, z.B. zum Wohnbereichsausgang hin, visuelle Barrieren bilden. Dimmbares Licht ermöglicht Beleuchtungssituationen, die entsprechend des Tagesverlaufs angepasst werden können, wodurch die tageszeitliche Orientierung (zirkadianer Rhythmus) wesentlich unterstützt wird.
Orientierungshilfen
Klare und gut erkennbare Beschriftungen dienen als Orientierungshilfen. Wichtig sind auch räumliche Bezugspunkte zwischen Objekten und Räumen – erreichbar durch einfache, beschriftete Orientierungshilfen. Auch die Wahl der Lichtschalter und Türgriffe ist entscheidend. Sie sind so etwas wie die Visitenkarte oder der „Händedruck” des Gebäudes. Über verschiedene Oberflächenstrukturen können Informationen über die Umgebung ertastet werden. Dies gelingt durch Schriftzeichen und Symbole (Hierbei gilt es zu beachten, dass Schilder maximal aus einer Kombination von zwei Symbolen und Ziffern bestehen darf), aber auch über Materialien mit unterschiedlichen Oberflächenqualitäten, z.B. rau und glatt oder warm und kalt.
Menschen mit Demenz fällt es zudem schwer, Umweltgeräusche richtig zuzuordnen, Andere in lauten Umgebungen zu verstehen oder Gesprächen zu folgen. Im Rahmen einer demenzsensiblen Gestaltung sind Räume mit einer angemessenen Hörbarkeit zu planen. Dies wird durch das Einbringen schallweicher Oberflächen wie Vorhänge, Polsterungen, Schallsegel und Akustikdecken erreicht. Trittschall reduzierende Beläge verbessern das akustische Raumklima. Generell ist es wichtig, bei Gesprächen Blickkontakt zu halten und nicht von der Seite zu sprechen – und auf jeden Fall den (möglicherweise) laufenden Fernseher auszuschalten. Für Menschen mit Demenz sind vor allem fremde Geräusche, zum Beispiel knallende Türen oder laute Lüftungsanlagen eine große Herausforderung.
Fazit
Grundsätzlich eignen sich Räume, in denen der Wechsel des natürlichen Lichts im Tagesverlauf erlebt werden kann, besonders gut. Ausblicke nach draußen sind von großem Vorteil. Sie ermöglichen eine jahreszeitliche Einordnung. Grundrisse mit geradliniger, nicht zu langer Erschließung, führen zu einem gewünschten sicheren Bewegungsraum und verbessern die Orientierung. Ziel der demenzsensiblen Architektur ist ein universelles Design und absolute Barrierefreiheit. Das Umfeld ist klar strukturiert sowie übersichtlich und bietet genügend Orientierungshilfen. Sie verzichtet auf zu viel Neues, schafft aber dennoch ausreichend Wahlmöglichkeiten im Sinne der Selbstbestimmung.
Denn demenzsensible Architektur sorgt für sensorische und geistige Reize und aktiviert zur Bewegung sowie zur sozialen Interaktion – wirkt aber weder unter- noch überfordernd. Über allem steht die Vertrautheit, Privatsphäre und die emotionale Sicherheit des Wohnenden. Je besser die Umwelt aus eigenen Kräften, über alle Sinne wahrgenommen und verstanden werden kann, umso sicherer fühlt sich der Betroffene und kann – im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten – maximal selbstständig und selbstbestimmt leben.
Autorin:
Nadine Holzer
Quellen:
Birgit Dietz – Demenzsensible Architektur: Planen und Gestalten für alle Sinne.
Bildquellen:
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